Der goldene Schlüssel zum Gegenüber
Ich lese gerade eine sehr interessantes Buch von Richard David Precht. Er sagt darin, Philosophie sei ein Fach, das man nie zu Ende studieren könne. Eigentlich sei es gar kein Fach. Im Moment, in dem ich diese Zeilen gelesen habe, schießt mir durch den Kopf, ob das nicht auch für die Fotografie gilt? Nun könnte man sagen, die Fotografie gibt es nicht. Stimmt. Aber im Bezug auf das, was ich fotografisch so treibe, könnte man zustimmend nicken. Fotografen, die sehr handwerklich arbeiten, oder gerne die Pixel in 100% Zoomgröße am Bildschirm zählen, mögen mir vielleicht immer noch widersprechen. Aus meiner Perspektive hat man dann jedoch wohl einen ganz anderen Blick auf Fotografie. Ich empfinde Fotografie viel mehr als ein künstlerisches Medium, das eben nicht als exakte Wissenschaft, bestehend aus Pixeln, Brennweiten und Sensorgrößen, zu verstehen ist. Vielmehr wohnt Fotografie doch immer auch ein Zauber inne, der, wenn man ein gutes Foto geschossen hat, mit dem Betrachter irgendwas anstellt.
Ich fotografiere Menschen, und da lernt man auch sicher nie aus. Zum Glück treffe ich fast immer auf Menschen, bei denen ich das ganz im positiven Sinne meine - von denen ich viel Neues erfahre und andere Perspektiven kennenlerne. An deren Persönlichkeit und Ausstrahlung ich teilhaben kann, und die mir damit etwas von sich schenken, das dann irgendwie, und fast auf wundersame Weise, in den Fotos landet. Und das eben nicht in Form von Bildschärfe, goldenem Schnitt, Megapixeln etc…
Oft werde ich gefragt, und es ist ein großer Themenpunkt in meinen Workshops, wie ich mit den Menschen vor der Kamera “umgehe” und wie diese Fotos entstehen. In der Regel lautet die Frage präziser zusammengefasst, wie ich mit dem “Model” umgehe. Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige - und das ist jetzt schon einige Zeit - umso klarer ist mir geworden, dass das alles zu großen Teilen vom eigenen Mindset abhängt: von der Persönlichkeit, von der Wahrnehmung und Einstellung zu sich selbst und anderen, und zum Leben an sich, geprägt wird alles auch von Erfahrungen und Erinnerungen. Das alles zusammen bringt man (größtenteils unbewusst) in die eigene Arbeit und schließlich auch die Fotos mit ein. Mehr noch: Es prägt ganz essentiell den eigenen Bildstil und die Bildsprache. Ob man will, oder nicht. Die meisten sind sich dessen aber weder bewusst, noch suchen sie bei sich selbst danach, vielmehr suchen sie an ganz anderen Stellen nach “dem goldenen Schlüssel” zum Gegenüber. In Technik, Kameras, Lichtanlagen, Blitzen und Objektiven. Dabei tragen wir den Schlüssel in uns selbst immer mit uns herum.
Vor einiger Zeit bekam ich eine Anfrage für ein Einzelcoaching von einer in ihrem Bereich wohl durchaus bekannten (mir bis dato aber gänzlich unbekannten) Fotografin, die sich auf Tierfotografie (genauer gesagt gefiederte Freunde) spezialisiert hat. Ihr Instagram-Profil beeindruckte mit einer enormen Zahl an Followern und ihre Bilder waren durchaus nicht minder beeindruckend. Wir telefonierten und sehr schnell wurde das Gespräch zur Einbahnstraße: sie erzählte nur noch von sich und ihrer Fotografie, wie gut sie darin sei, wo sie alles schon unterwegs war, wer sie alles bucht, und das sie zum Coaching auch gerne mal eine Eule mitbringen könne, wenn ich möchte. Sie erklärte mir, sie würde gerne mehr in den Portraitbereich gehen, sie wisse aber nicht, warum sie sich mit dem Fotografieren von Menschen (aus ihrer Sicht aus rein fotografisch/technischer Perspektive) schwerer täte, und warum sie nicht diese Atmosphäre in ihre Fotos bekomme, die sie an meinen Fotos so fasziniere. Der Monolog der Dame verlief so noch einige Minuten weiter und sie endete damit, ich solle ihr doch bitte ein Angebot für ein Einzelcoaching im Bereich Portraitfotografie zuschicken. Das bekam sie am nächsten Tag auch gleich von mir - ganz nett und sehr ausführlich geschrieben, mit allen Infos und Inhalten für einen Tag bei mir im Studio. Sie hat darauf nie geantwortet. Ich glaube zu ahnen, warum es bei ihr mit den Fotos und den Menschen nicht so klappt.
Rein objektiv betrachtet kann man nichts “vom Inneren der Person” auf ein Foto bringen, und dann geht es doch… Lasst euch auf den Menschen vor der Kamera ein, seht sie oder ihn nicht nur als “das Model”, sondern als Menschen, der euch seine Zeit und etwas von sich als Persönlichkeit und als Mensch schenkt. Klar, manchmal liegt das nicht alles auf dem Silbertablet: Seid neugierig und offen, seid ehrlich und interessiert. Ihr werdet sehen, was das bewirkt. Wenn man das beherzigt und verinnerlicht, hat man schon den Schlüssel in der Hand. Und die Kamera, um es festzuhalten. Man kann gar nicht überschätzen, wie wichtig die zwischenmenschliche Komponente in der Portraitfotografie ist, schon gar nicht bei “sensiblen” Fotos, bei Aktfotografie und auch bei sinnlichen Portraits, die mit Stil und Ästhetik einhergehen sollen.
Ein Fotos muss etwas Magisches an sich haben. Erst diese besondere Atmosphäre lässt den Betrachter vor dem Bild verweilen.
- Walter Vogel
Heidy, vielen Dank - es ist mir immer wieder eine große Freude, mit dir zu arbeiten.